Die
Schauspieler vermitteln das Gefühl, als ob sie gerade von einer
längeren Reise zurückkämen, / oder nach langer Zeit wieder aus einem
unterirdischen Bunker ans Tageslicht, nachdem der Krieg
vermeintlicherweise zu Ende schien, / oder als ob sie sich gerade auf
einer Reise befänden, / beziehungsweise auf das Taxi, einen Personenbus,
den Zug warten würden, um abzufahren. / Die Menschen, die von den
Schauspielern dargestellt werden, machen einen traurigen, verlorenen
Eindruck, ohne verzweifelt zu wirken. / Sie spielen keine Rollen. Sie
spielen auch nicht sich selbst. Sie sind tot oder am Leben. / Aber das
macht keinen Unterschied. / Sie leben, aber es gibt nichts außer einer
vagen Erinnerung, das sie am Leben hielte. / Sie sind tot, weil der
Augenblick zu verweilen, ein Ablaufdatum hat. / Zu viel haben die Augen
schauen, die Ohren hören, die Buckel schleppen müssen./ Im Verlauf der
letzten Jahre haben sie ihre Namen vergessen. / Es gibt keinen Blick
mehr. / Kalt ist es in der Nacht. / Die Sonne geht auf und die Sonne
geht unter. / Tag für Tag.
(Ernst
M. Binder )
Der Ort des Morgenkaffees und der
zwölfgängigen Menüs, der volltönenden Liebeserklärungen und kleinlauten
Entschuldigungen, der geselligen Zusammenkünfte und einsamen,
nächtlichen Wanderungen auf nackten Sohlen zum Kühlschrank: Die Küche
ist Zufluchtsort in Zeiten von Hektik und Unruhe, aber auch
Ausgangspunkt für abenteuerliche Expeditionen. Küche steht für Heimat,
Zuhause, Geborgenheit. Sie ist deren SINNbild - eine Collage aus
Sinneseindrücken: dem Rot der Äpfel, dem Gelb des Abwaschschwamms, dem
Geräusch des Löffels, als er an den ersten Zahn im Mund unseres Kindes
stieß , dem bitteren Geschmack
des Spinats und den süßlichen Rauchschwaden verbrannter Milch. Ça
sent encore le brulé!²
Die Sehnsucht nach einer solchen
Küche, das heißt einem Platz in der Welt, wo das Ich bleiben, zur Ruhe
kommen kann, wo Heimatlosigkeit und Entwurzelung für kurze Zeit
suspendiert werden, ist zentrales Motive in den Werken Peter Handkes.
Seine ProtagonistInnen irren auf der Suche nach Aufhebung der Leere,
nach „Heilung“ ihrer als individuelles Schicksal empfundenen
Unbehaustheit umher - gleich wie die Künstler der Romantik, die dem
eisigen Wind einer als feindlich erlebten Umwelt und der Kälte selbst
gewählter Einsamkeit in eine mystische Einheit mit dem All, in eine
Verschmelzung mit den Dingen entkommen wollten. Der Titel der
„Winterreise“, des bekanntesten Liedzyklus jener Epoche, ist
programmatisch für das romantische Welt- und Lebensgefühl. Der Weg des
Schubert’schen Wanderers durch die kalte Jahreszeit führt zu einer
äußersten Konfrontation des existentiellen Wunsches nach Geborgenheit
mit dem Streben nach Freiheit und Individualität. „Fremd bin ich
eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus“ – die erste Liedzeile der
„Winterreise“ nennt das Problem beim Namen: Wer die Fremde in sich
trägt, wird nie sesshaft werden. Eine Möglichkeit, dem Fremden zumindest
zeitweise Zugehörigkeit zu verleihen, ist für Handke das Erzählen, die
langsame Vorwärtsbewegung des Benennens: Die Dinge beim Namen nennen,
ihre Differenz kennzeichnen, sie vom Anderen unterscheiden lernen, sie
so bewahren und als Phänomene retten. Mit seinen Aufzählungen, seinen
Litaneien setzt Handke erfahrungsgesättigte, subjektive
Bildbeschreibungen gegen die seriell produzierten Sprachformeln des
Informationsaustausches. Er gibt der Welt das Unsichtbare, Verstummte,
das Langsame, das sich nicht mehr im Wahrnehmungsbereich unserer
schnelllebigen Gesellschaft befindet, zurück – und zwar in einer
„unschuldigen“, von Denkschablonen und Bedeutungsrastern befreiten Form.
Nicht das lineare Nacheinander eines Handlungsablaufes, sondern das
synchrone Nebeneinander und Miteinander schaffen die Ordnung, den
Zusammenhang. Die Wahrnehmung soll der Methode unserer Erinnerung
folgen, die Gedächtnisinhalte assoziativ und eher emotional als räumlich
bzw. zeitlich verortet abruft: Erinnerung hieß nicht: Was gewesen
war, kehrte wieder; sondern: Was gewesen war, zeigte, indem es
wiederkehrte, seinen Platz.
Die Wiederholung weist den Dingen ihre Stelle zu, „beheimatet“ sie. Es
ist nicht mehr der Sprecher, der als übergeordnete Wahrnehmungsinstanz
bestimmt, was genannt wird – die Dinge beginnen von allein, ins
Blickfeld zu drängen. Es ist die Welt selbst, die sich zu erzählen
beginnt. Warum eine Küche? ist keine Erzählung von Heimat,
sondern das Finden der Heimat im Erzählen.
(A.
Rollett)
Ernst M. Binder: Vorwort zur Produktion „Warum eine Küche?“, auf:
http://dramagraz.mur.at
Peter Handke: Warum
eine Küche? Wien.: edition korrespondenzen 2003.
Peter Handke: Die
Wiederholung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986.