Winter.
TITOGRAD
Verlaß den Traum. Schau wie der Schnee
vorbeifällt an dem leeren Vogelnest. Auf zur Verwandlung.
Peter Handke
Der Tod des
Subjekts, der in der Postmoderne so vehement proklamiert wurde, hat
seine wissenschaftliche Bestätigung erhalten. Entwicklungspsychologen
unterwerfen die klassische westliche Vorstellung von einem Selbst, das
sich sein Lebensziel selbst wählt und verwirklicht, gesellschaftlichen
Determinanten; Soziologen beschreiben, wie wir unsere Identität im
Schnellverfahren wechseln, damit unsere Ich-Aktie am neoliberalen Markt
nicht an Wert verliert; die Gedächtnisforschung belegt, dass sich unsere
schönsten Kindheitserinnerungen nicht wesentlich von den
Eiweißbestandteilen eines Steaks unterscheiden; Neurologen stellen die
Autonomie unserer Handlungen in Frage und bezweifeln die Existenz
unseres Bewusstseins.
Nachdem die Analyse des Buches der Natur beim Alphabet der
Gene angekommen ist, ist man in der Lage, den menschlichen Körper und
bis zu gewissem Grade auch den Charakter neu zu schreiben, ohne auf
Prothesen der Schönheitschirurgie und Formeln der
psychopharmakologischen Kosmetik angewiesen zu sein.
Der Mensch ist, so lautet der rationale Befund, ein
Niemand, ein gigantischer genetisch-memetischer Komplex in einem
sinnentleerten Universum, das irgendwann einmal den Kältetod sterben
wird. Er hat keine Identität, keine Heimat mehr. Weder der eigene
Körper, die eigene Persönlichkeit, noch die Beziehung zu anderen bieten
einen stabilen, unveränderlichen Halt. Alles ist konstruiert und daher
konstruierbar. Das Ich ist von einer Konstanten zu einer Variablen
geworden:
Wie NICHT EGAL WER unterziehen wir unseren Körper mehr oder
weniger gewaltsamen Metamorphosen, um dem Selbstbild unserer Wünsche
und Träume zu entsprechen. Mit dem MÄDCHEN sehnen wir uns nach Liebe,
die nicht Fortpflanzungsakt oder Masturbation zu zweit ist, sondern ein
Prozess der Verwandlung, eine Verschmelzung mit dem Anderen zu einem
neuen Ganzen. Wir sind PIVOTS, die sich permanent eine Existenz
erschwindeln, eine Vergangenheit erdichten, von der aus wir uns in die
Welt erzählen können. Eine Vergangenheit, die in der Erzählung
bewältigt, zu einem Abschluss gebracht oder heraufbeschworen und bis zum
Letzten ausgekostet werden will. TITOGRAD ist ein Stück über diese
Geschichten, die von uns bleiben, auch wenn wir uns schon längst wieder
verwandelt haben. Sie halten sich nicht an narrative Grundstrukturen,
sie kennen keine kausalen Zusammenhänge, sind nicht verankert in Raum
und Zeit und finden ihren Anfang und ihr Ende einzig in den Augenblicken
radikaler Ich-Werdung: in der Geburt und dem Tod. Sie werden auf
Bahnhöfen erzählt, aus denen der letzte Zug bereits abgefahren ist, auf
Brachland, für das es noch keinen Nutzungsplan gibt, auf Friedhöfen und
in Kreissälen. Es sind Märchen, die in einer Welt aus neuronalen und
sozialen Simulationen die einzige Realität des Subjekts darstellen.
Auch wenn die Hauptstadt Montenegros seit 1992 wieder
Podgorica heißt, wird das Titograd des Josip Broz weiter existieren. Es
ist zu einem Ort der Erzählung geworden, zu einem Ort für die Erzählung,
die Poesie und für alles, was sich nicht analysieren und auf Festplatte
speichern lässt.
(Alexandra Rollett) Ein Dorf im
ehemaligen Jugoslawien. Verlassen. Namenlos.
Am Beispiel der Geschichte eines
Dorfes in der Krajina [freilich auch exemplarisch für die Geschichte des
Vielvölkerstaats Jugoslawien stehend] werden acht Menschen sich und
ihrer Vergangenheit begegnen und stellen. Sie werden zusammen die Zeit
zwischen Weihnachten und Silvester verbringen. Ob dieser Ort jemals
wieder Jemandes Ort sein wird, ist nicht Thema hier und jetzt. Die
Situation ruft die Erinnerungen wach und schenkt sie den im Wartesaal
des Bahnhofs [das einzige nicht zerstörte Gebäude in weitem Umkreis] das
Christfest Feiernden, und befreit die ausgebrannten Hausruinen von den
Geistern der Geschichte. Sie lässt die Mutter einen Kuchen backen und
den Vater von der Zeit erzählen, als das Wünschen noch geholfen hat.
Die Worte bannen die Verzweiflung und
den Schmerz, ohne sie zu verdrängen. Wir erzählen von einander, um uns
zu benennen und uns zu verstehen. Einer um den anderen wird noch vor
Silvester wieder gehen. Im Neuen Jahr werden sie dort aufwachen, wo sie
jetzt leben. Sie werden einen Namen mitnehmen und sich selbst
hinterlassen als Trost für die, die nicht mehr sind.
Ein wunderschöner
Satz des serbischen Dichters Miloš Crnjanski wird das Publikum nach der
Aufführung in die Nacht begleiten, wenn das Märchen zu Ende erzählt ist:
Als der erste Schnee fiel, lernten wir uns besser kennen.
(Ernst M. Binder)
Textauszug:
PIVOT mit dem Kind im Arm
Pssst. Hörst du? Draußen ist es Frühling worden. Man siehts
dem Himmel an, der heller dunkelblau und zart. Und den Wolken die ein
wenig schneller. Ungeduldiger. Die Luft riecht anders in den Tag und in
das Leben. Der Lack nun ab und morsch das Holz. Worden. Mühsam halten
sich die Angeln fest am Lauf der Zeit. Die Treppe aus Beton. Risse. Die
Winter. Jahr für Jahr. Den Nussbaum hat der Frost im letzten Herbst.
Doch jetzt ist wieder März. Der Birnbaum treibt die Knospen aus den
Ästen, dass es eine Freude. Die Spitzen drängen an die frische Luft. Und
in den, freilich um diese Jahreszeit nicht lauen, sondern zumeist eisig
kalten Wind, der vor dem Schnee hoch im Gebirge flieht ins Tal.
MARIJA tritt von hinten zu den beiden
Pssst. Nicht weinen.
Schau. Die Menschen liegen warm in ihrem Beet. Bevor das Gras darüber
wächst werden die Blüten fallen und sie schmücken als ob sie unter uns.
Und noch bevor der Sommer kommt wirst du mit großen Augen. Sie werden
leuchten wie die reifen Kirschen und der dunkelblaue Himmel und das
unbeschriebne Blatt Papier. Du wirst die Welt so neu und wunderschön wie
ich jetzt, wenn ich dich. Sie nimmt das Kind. Pssst. Schlaf
jetzt.
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