PerformOpera von Periklis Liakakis
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Konzeption Ernst Marianne Binder Libretto Sophie Anna Reyer | |
unter Verwendung von zwei Gedichten von Christian Enzensberger
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mit Gina Mattiello und Christian Reiner | |
MUSIK. LEITUNG: Periklis Liakakis
VIOLINE: Fani Vovoni
AKKORDEON: Martin Veszelovicz
Inszenierung/Raum: Ernst Marianne Binder
Musikalische Leitung: Periklis Liakakis
Kostüme: Vibeke Andersen
Figurenbau: Annika Lund
Licht/Sound: Geari Schreilechner
Tontechnik: Andreas Thaler
Regieassistenz: Paula Perschke
Produktion: Andrea Speetgens
Technische Leitung: Geari Schreilechner
Abendspielleitung: Paula Perschke
URAUFFÜHRUNG
3. Oktober 2012 THEO, Oberzeiring (Theaterland Steiermark)
6. Oktober 2012 echoraum Wien, 20:00
15. Oktober 2012 Drama Graz, 20:00
Weitere Vorstellungen in Graz: 18., 19., 20. Oktober 2012
1., 2., 3., 8., 9., 10. November 2012, jeweils 20:00
Eine Koproduktion von
dramagraz, FAIMME Wien, echoraum Wien und Theaterland Steiermark
Dank an Peter Faßhuber und Werner Korn
© Alle Rechte bei Binder, Liakakis, Reyer
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Das Buch von Lewis Carroll ist seit 150 Jahren ein Bestseller, die Geschichte vom Paralleluniversum im Traumland hat Generationen fasziniert und regt noch immer zur Frage nach der Realität der Traumwelt an. Es hat viele Künstler inspiriert, Zeichner, Maler, Regisseure, Filmemacher; man könnte sich fragen ob überhaupt noch eine neue Deutung möglich ist.
In dieser MusikTheater-Produktion werden Sie eine völlig andere Alice erleben als in den anderen Bühnenadaptionen und Ver-filmungen von "Alice im Wunderland" bisher. Die Inszenierung Ernst M. Binders versucht sich weder an Hollywoodkitsch und Zaubertricks, noch geht sie den psychologischen Hintergründen nach, die zu der Entstehung dieser Figur geführt haben, sondern konfrontiert den Zuschauer mit den Alpträumen und Kindheits-erinnerungen einer Frau, die sie nicht einzuordnen weiß. Der arti-fizielle Text Sophie Reyers und die Musik des griechischen Opernkomponisten Periklis Liakakis ergeben eine Mischung aus SprechGesang, dichten "Chorpartien" aus Samples, live gespielten Instrumenten und dazu geschalteter elektronischer Akustik, die eine der Thematik entsprechende individuelle Klangfarbe zu jedem Bild entstehen lassen.
"Tief, tief, tiefer fallen wir in jene furchterregende, wild irrationale, doch vollkommen logische Welt, wo die Zeit rast, dann stillsteht; wo der Raum sich dehnt, dann sich zusammenzieht", beschreibt Virgina Woolf nach der Lektüre des Märchens ihren ersten Eindruck. Binder interpretiert das Fallen so: "Die einzige Chance, dem Aufprall zu entkommen, ist fliegen zu lernen. Fliegen im Sinne von 'Sich Wehren'. Der Vereinnahmung entkommen. Das heißt auch: genauer hinsehen. Sich auf die Socken machen. Sich die Welt neu erfinden. Durchtauchen. Sich der Fantasie aussetzen, als Überlebenstraining. Um das durchzustehen. Was mit einem passiert ist. Sich dem Trauma stellen."
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I'm not an animal. I'm not an abortion.
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"Es gibt also keine Hoffnung?", sagt die krebskranke Arletty. "Es gibt oft auch Wunder", erwidert der Arzt. (aus dem Film "Le Havre" von Aki Kaurismäki)
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Wenn man lange genug in den Abgrund schaut, dann schaut der irgendwann
zurück. Man holt die Welt in seinen Kopf und formatiert sie. Stellt den Urzustand
her. Den Ausgangspunkt.
"Zuerst war der Fall in den Schacht." So beginnt der dem Abend zugrundeliegende
Text von Sophie Reyer. Das ist der Ausgangspunkt. Der Abgrund, der sich im
Fallen auftut.
Die einzige Chance, dem Aufprall zu entkommen, ist fliegen zu lernen. Fliegen im
Sinne von "Sich Wehren". Der Vereinnahmung entkommen. Das heißt auch: genauer
hinsehen. Sich auf die Socken machen. Sich die Welt neu erfinden. Durchtauchen.
Sich der Fantasie aussetzen, als Überlebenstraining. Um das durchzustehen. Was
mit einem passiert ist. Sich dem Trauma stellen.
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Grinsekatze: Wo willst denn hin. Alice: Egal. Grinsekatze: Dann ists egal welche Richtung. Alice: Nur irgendwo käm ich gern an dann.
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Mich hat "Alice im Wunderland" nie interessiert, beziehungsweise bin ich in
meiner Kindheit und Jugend nie damit konfrontiert worden. Meine Märchenwelt hat
sich auf den brachialen sado-masochistischen Erfindungswahn der Gebrüder Grimm
beschränkt. Ein Instrumentarium, das sich hervorragend als Folterwerkzeug eignet,
um in geradezu vorauseilendem Gehorsam die Frage nach den Obrigkeiten erst gar
nicht aufkommen zu lassen. Außerdem bin ich in einer katholischen Familie
aufgewachsen. Da stellt sich die Frage nach heimlichen pädophilen Neigungen wie
dem verschämten Spähen durch Umkleideraumritzen und Schlüssellöcher gar nicht.
Da verliert man auch keine Zeit mit Umwegen wie den künstlerisch verbrämten
Fotografien eines Charles Dodgson alias Lewis Carroll. Da schreitet man zur Tat,
wie wir heute nach dem Auffliegen der ganzen Klosterschulenskandale wissen, was
wir immer schon gewusst haben. Da ist auch keine Zeit für Zärtlichkeit gewesen.
Wo ein Gott die Rute schwingt, beziehungsweise den Schwanz in der Hand hält, da
ist auch die Drohung mit dem Auszug aus dem Paradies nicht weit.
Was also interessiert mich an "Alice"? Warum, zum Teufel, heutzutage "Alice"?
Sicher nicht, um diese Geschichte nachzuerzählen. Das wäre mir zu blöd. Die Bilder
kann man in seiner Fantasie wesentlich besser herstellen als das auf einer
Bühne oder auf der Leinwand möglich ist. Mich interessiert also eine pseudo-
psychologische Deutung a la Bob Wilson nicht, auch nicht der Hollywood-Kitsch
von Tim Burton. Da ist mir der von Walt Disney produzierte Zeichentrickfilm am
liebsten. Da wird die Geschichte klipp und klar erzählt, kein Schnickschnack, kein
Brimborium. Das hat in unserer heutigen Zeit der rasanten, nur dem Selbstzweck einer
Gedankenlosigkeit huldigenden Bild- und Schnittfolgen fast was Archaisches.
Mich interessieren die Hintergründe, die Lewis Carroll dazu gebracht haben mögen,
diese Geschichte zu erfinden. Mich interessiert dieses Mädchen und die Geschichten,
die nicht erzählt werden. Was dahinter liegt, was diese Geschichten hinter den
Geschichten mit ihr angerichtet haben. Das auf einen Traum zu reduzieren erschiene
mir zu einfach. Und erst recht, sie nach dieser Reise unbeschadet aus diesem Traum
erwachen zu lassen.
Mich interessieren diese traumatischen Erlebnisse, die Alice in diese scheinbaren
Fantasiewelten flüchten und sie wieder auferstehen lässt und das diesen Geschichten
zugrunde liegen muss. Mich interessiert, herauszufinden, was das bedeutet. Für sie als
Mädchen,- und für sie als Mensch. Ich möchte den Code entschlüsseln und herausfinden,
was wirklich passiert ist.
Nein, vergnüglich wird dieser Abend nicht. Und schon gar nicht lieblich. Bestrafungs-
mechanismen wie etwa bei den Märchen der Gebrüder Grimm gibt es nicht. Die Tat
impliziert die Bestrafung, die Teil der Tat ist, zu der man verführt und damit zum Teilhaber
der Schuld gemacht wird. Ich erzähle sozusagen die katholische Version. Obwohl ich ein
Junge bin und kein Mädchen, hat dieser Mechanismus auch mich Jahre schlechten
Gewissens gekostet. Auch wenn ich tapfer mit oft mehrmaligem täglichen Onanieren
dagegen angekämpft habe. ("Zum Trotz. Jetzt erst recht!") Und obwohl ich in viel geringerem
Maße Opfer von verkorksten kranken Altherrenfantasien gewesen bin.
Die Welt muss sich in den Köpfen der Zuschauer erschaffen. Die Bühne leer. Die Musiker
und Sprachperformer nur dazu da, mich an der Hand zu nehmen. Sich mit mir durchs Leben
stottern, fantasieren, dahinwabbern, nach Worten suchen, sich zu artikulieren, in rasantem
Tempo, nur Gestammel, Schreie, links, rechts, von oben, unten, aus dem Dunkel, wie
Stimmen in der Geisterbahn.
Mir die Augen öffnen. Denn Alice, das bin ich. Eine, die ständig hinterfragt, es vielleicht gar
nicht so genau wissen will und trotzdem hinterfragen MUSS. Weil es nicht ohne Hinterfragen
geht. Weil man es ohne Hinterfragen nicht mehr aushält in dem eigenen vermaledeiten Körper,
der nach Erklärung fleht. Das "Da Draußen", das "Außer sich Geraten", das "In einem Selbst"
MUSS sich auftun als das was es ist: Eine Sprach-, Sprech- und Geräuschmühle, die das
Gehirn zermalmt, die Ganglien weichzukochen versucht. Die Zwänge scheinen übermächtig
und die Verlockung, sich ihnen zu ergeben, groß. Die Flucht der einzige Ausweg. "Wohin?",
das fragen auch die drei Damen am Ende von Einar Schleefs "Totentrompeten"-Tetralogie:
"Nach Hause", geben sie sich die Antwort selber.
Was aber, wenn es kein Zuhause gibt? Weil da der Vati wartet. Die Mutter, die wegschaut,
weggesehen hat. Die Verhaltensmaßregeln. Der Abgrund ist die Welt. Das Fallen in den Schacht
die Geburt: "Hallo." "..." Wo wollen wir dann hin? Mit dem Kopf durch die Wand? Ja. Aber zuerst
einmal mit dem Kopf gegen die Welt und durch sie durch. "Na, kleines Riot-Punk-Girl ..." Über-
mächtig ist die Welt und das Scheitern alltäglich. Da find sich einer zurecht!
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Raupe: Warte. Hab dir was Wichtiges zu sagen, Kind. Alice: Und. Raupe: Bewahr die Fassung. Alice: Ist das alles.
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Ich arbeite seit vielen Jahren mit Menschen an Menschen in archaischen leeren dunklen
Räumen, die sich gegen das Nichts behaupten müssen. Das interessiert mich an meiner Arbeit
am Theater. Der leidenden Kreatur zu ihrer Selbstbehauptung zu verhelfen.
Es mag merkwürdig klingen, wenn ich "Alice" in eine Reihe mit "Wozeck" und den "Freischütz/
Black Rider" stelle. Beide habe ich inszeniert. "Woyzeck" in Ljubljana, "Black Rider" am
Schauspielhaus in Graz. Und jetzt "Alice". Fehlt eigentlich nur noch "Peer Gynt". Der gehörte
ins Raimundtheater. Damit dort auch einmal eine frische Brise Nordwind die Köpfe auslüftet.
Der doppelte Boden: Ich schicke Alice, das Riot-Punk-Girl auf die Bühne, stellvertretend für mich.
Ich lerne mich kennen, indem ich ihr zusehe, wie sie sich durch die Häuserschluchten kämpft.
Sich den ihr zugefügten Deformationen stellt. Wahrhaftigkeit. Das ist es, was Schleef immer
gepredigt hat. Und das ist es, was am Ende zählt. Nicht das Durchkommen, nicht das Ankommen ...
Sich mitnehmen in das vermeintlich zauberhafte Märchenland. Und ihm widerstehen, es benützen,
immer sich selbst im Auge behalten. Wo wir ankommen, werden wir sehen. Beim Vergehen ein
breites Grinsen hinterlassen. Ja, das wäre schön. Also doch ein Märchen? Nein. Aber im
Gegensatz zu den vorhin genannten Theater-Parabeln auf unser Dasein und die Welt die einzige
mit positivem Ausgang. Ja. Das möchte ich. "Sie vergeht und hinterlässt ein breites Grinsen."
Heißt es im Text. Das wär doch was.
Augen auf und durch! Aus dem Albtraum erwachen. Mit nichts als mit der Gitarre in der Hand.
Die macht so schön Lärm. Die pustet die da draußen weg. Die macht einen Höllenlärm. Die
macht meinen Kopf frei für mich. Oder, um es mit den "Sex Pistols" zu sagen: "Mummy! I'm
not an abortion!"
(Ernst Marianne Binder)
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ALICE - eine PerformOpera
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Alice im Wunderland: Ein Traumthema aus kompositorisch-klanglicher Sicht. Sprechende
Kaninchen, Mäuse mit kreischenden, wütenden Stimmen, sich rege unterhaltende Papageien,
Enten und Frösche, die in unbekannten Dialekten miteinander kommunizieren; Chöre kleiner
Ungeziefer und weinende Hunde; Ratgebende Raupen, kreischende Tauben und in allem
natürlich die Stimme eines Mädchens, das sich als Riot-Girl entpuppt.
Eine bizarre Audio-Landschaft aus einem außergewöhnlichen Gemisch von Stimmen und
Lauten, die, das innere Ohr stimulieren und die musikalische Phantasie katapultieren.
Eine Schauspielerin/Stimmperformerin und ein weiterer Vokalist werden mittels schneller
Wechsel in die unterschiedlichen Rollen schlüpfen. Sie werden melodische Linien singen, die
nur vage an Belcanto erinnern, sie werden lispeln, ungewöhnlich schnell sprechen, eigenartige
Laute mit ihrem Stimmapparat produzieren, kurz, sie werden alle Facetten ihrer stimmlichen
Möglichkeiten einsetzten und dort, wo die kompositorische Phantasie schier „unmögliches“
verlangt, wird die Elektronik zu Hilfe eilen; die Stimmen werden live erklingen und zusätzlich
elektronisch bearbeitet. Alice wird wie eine Sirene und die Raupe wie ein „Alien“ erklingen.
Eine äußerst vielschichtige Ästhetik bestimmt die musikalische Struktur des Stückes; die
Elektronik ist wie die stimmperformativen Textflächen gleichermaßen präsent: von dichten
Sinustonkomplexen, elektronisch erzeugten Chorälen über wilde techno-drumbeats bis hin
zu ätherischen Akkordeon-Klängen, die, die einsame Stimme einer Violine trösten. Die
Landschaften, die Alice durchwandert, sind einerseits nicht von dieser Welt, anderseits,
entdeckt man in ihnen die Absurdität des Alltäglichen, ja des Lebens selber und dies auf
einmalige Art und Weise.
Eine schräge Mischung aus „alltäglichem“ und „artifiziellem“ soll sich in der Alice-Musik
widerspiegeln. Musik und Text sollen einerseits lustvoll, spielerisch und frech erscheinen,
andererseits, poetisch, abstrakt und eigenartig-humorvoll.
(Periklis Liakakis)
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