Das Buch "Alice im Wunderland" von Lewis Carroll ist seit 150 Jahren ein
Bestseller; die Geschichte vom Paralleluniversum im Traumland hat Generationen
fasziniert und regt noch immer zur Frage nach der Realität der Traumwelt an.
Es hat viele Künstler inspiriert, Zeichner, Maler, Regisseure, Filmemacher;
man könnte sich fragen ob überhaupt noch eine neue Deutung möglich ist.
Geflissentlich werden in den meisten Bearbeitungen und Interpretationen
die offensichtliche pädophile Neigung des Autors Lewis Carrol alias Charles
Dodgson weder thematisiert noch die Metaphern im Hinblick auf sexuellen
Missbrauch hinterfragt. Das Konzept dieser RadioOper ist es, den Hintergründen
dieser geheimnisvollen, scheinbar unergründlichen Nonsense-Geschichten auf
den Grund zu gehen. Ernst M. Binders Interesse gilt daher nicht so sehr einer
opulenten, phantastischen Aufbereitung des Stoffes noch einer unterhaltsamen
kindergerechten Umsetzung, sondern er versucht den Zuhörer mit den
Kindheitserinnerungen einer traumatisierten Frau und den daraus resultierenden
Alpträumen zu konfrontieren. Ständig steht unausgesprochen die Frage nach
dem Moment im Raum, an dem Zärtlichkeit aufhört und Missbrauch beginnt.
Der artifizielle Text Sophie Reyers und die Musik des griechischen Komponisten
Periklis Liakakis ergeben eine skurrile Mischung aus Sprechgesang, dichten
"Chorpartien" und Samples, live gespielten Instrumenten und dazu geschalteter
elektronischer Akustik, die eine der Thematik entsprechende individuelle
Klangfarbe zu jedem Bild entstehen lassen. Die beiden Stimmkünstler Gina
Mattiello und Didi Bruckmayr tasten sich den schmalen Grad zwischen ehrlicher
Hingabe und artifizeller Entäußerung entlang.
"Tief, tief, tiefer fallen wir in jene furchterregende, wild irrationale,
doch vollkommen logische Welt, wo die Zeit rast, dann stillsteht; wo der
Raum sich dehnt, dann sich zusammenzieht", beschreibt Virgina Woolf nach
der Lektüre des Märchens ihren ersten Eindruck. Binder interpretiert das
Fallen so: "Die einzige Chance, dem Aufprall zu entkommen, ist fliegen
zu lernen. Fliegen im Sinne von 'Sich Wehren'. Der Vereinnahmung entkommen.
Das heißt auch: genauer hinsehen, sich auf die Socken machen, sich die Welt
neu erfinden. Durchtauchen. Sich der Fantasie aussetzen, als Überlebenstraining.
Um das durchzustehen. Was mit einem passiert ist. Sich dem Trauma stellen."
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