Deutsch von Marius von Mayenburg | |
C(hild): Lucia Neuhold M(other): Mona Kospach B(oy): Lukas Walcher A(uthor): Ninja Reichert | |
Regie/Raum: Ernst Marianne Binder
Musikinstallation: Josef Klammer
Ausstattung: Vibeke Andersen
Licht/Sound: Geari Schreilechner
Sprechtraining: Ninja Reichert
Körpertraining: Mona Kospach
Assistenz/Ton: Christoph Trummer
Produktion: Andrea Speetgens
Technische Leitung: Geari Schreilechner
| |
Premiere: 17. August 2015, 20:00, Drama Graz | |
8020 Graz, Schützgasse 16, Volkshaus | |
Weitere Vorstellungen: 19., 20., 21., 25., 26., 27., 28. August 2015,
1., 2., 3.,4., 8., 9., 10. September 2015, jeweils 20:00
Karten:
tel: +43 699 106 25 313
e-mail: dramagraz@mur.at
| |
Uraufführung: 13. August 1998 am Traverse Theatre, Edinburgh (Regie: Vicky Featherstone) Deutsche Erstaufführung: 23. März 2000, Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin (Regie: Thomas Ostermeier) | |
© Rechte für "Gier" von Sarah Kane bei Rowohlt, Reinbek bei Hamburg
Aufführungsdauer: 70 min
| |
wurde 1971 in der Grafschaft Essex, England geboren. Sie studierte an den Drama Departments der Universitäten Bristol und Birmingham. Die Uraufführung ihres Debütstücks Zerbombt (1995, Royal Court Theatre Upstairs) wurde in England zu einem Skandal und etablierte Kane zugleich als eine der wichtigsten Dramatikerinnen der 90er Jahre. Außerdem arbeitete sie als Regisseurin und inszenierte am Londoner Gate Theatre die Uraufführung ihres zweiten Stücks, Phaidras Liebe, und Georg Büchners Woyzeck. Ihr Drehbuch Skin wurde von Channel Four/British Screen verfilmt. Sarah Kane beging im Februar 1999 Suizid. | |
In GIER reden vier Menschen um ihr Leben, bedroht von einer Überdosis Sehnsucht. Das hört sich an wie ein Reisebericht von vier versprengten Individuen auf ihren sich kreuzenden Wegen durch die eigenen Abgründe, Verletzungen und Wünsche. Oder das Selbstgespräch eines einzelnen menschlichen Bewusstseins, zerrissen von der unmittelbaren Erfahrung von Verzweiflung, Begehren und Verlust. Gier hat keine Handlung, keine klar konturierten Charaktere. Ein theatralisches Prosagedicht, das nur aus Sprache besteht, obszön und heilig zugleich, unschuldig, abgeklärt und verloren. Was sich in Kanes vorherigen Stücken als seelische Gewalt und Grausamkeit nach außen stülpt, wendet sich in Gier nach innen: Liebe als Obsession und Utopie, als bedingungslose Hingabe, Besitzanspruch und Verweigerung. | |
Schneidet mir die Zunge ab reißt mir die Haare raus hackt mir die Glieder ab nur meine Liebe die lasst mir | |
GIER ist nach PSYCHOSE 4.48 und ZERBOMBT das dritte Theaterstück der viel zu früh verstorbenen Dramatikerin Sarah Kane, das ich inszeniere. Ich werde es in einem Kopf spielen lassen. Im Kopf eines Menschen, der verzweifelt ist. Zermantscht von einer Abrissbirne. Auf einer Baustelle. Die Caterpillarschaufel versucht, den Schutt zu entfernen. Wie hört sich das an? Was fühlt man dabei? Zu erklären gibt es nichts. Nur viel zu erfahren. In der Erinnerung kramen. Wie es dazu kommt. Und wie ICH oder DU oder WIR ÜBERLEBENDEN da wieder rausgekommen sind. Es ist auch eine Hommage an einen Menschen, dessen Sehnsucht so groß war, so übermächtig, dass ihr selbst der Traum von der Erfüllung abhanden gekommen ist. In einer Zeit, in der Dumpfbacken wie A. Gabalier unwidersprochen von „Zuckerpuppen“ singen dürfen und ganz offiziell im Namen von Kunst und Wissenschaft und unter reger Anteilnahme der Österreichischen Medien im Bundeskanzleramt eine Laudatio halten dürfen, eine ganz dringend notwendige und mir am Herzen liegende Würdigung und Danksagung. Danke Sarah Kane. (Ernst Marianne Binder) | |
IM KOPF IM KOPF DA TUT ES WEH | |
Dramatis personae sind die vier Stimmen A, B,C und M, zu deren Identitäten Kane keine weitere Information gibt. In Interviews führte sie allerdings die Bezeichnung der Figuren aus; dabei steht A für Autor oder auch Aleister Crowley, Antichrist und Arschloch, B für Boy, also Junge, M für Mother/Mutter und C für Child/Kind. Im Stück bleibt offen, ob tatsächlich vier verschiedene Personen oder z.B. die Gedanken nur einer Person sprechen. Ist auf Wikipedia zum Stück nachzulesen. Die Autorin selbst äußerte sich wie folgt: „Für mich ist GIER, in dem es körperliche Gewalt nicht einmal ansatzweise gibt und der ein sehr stiller Text ist, mein bisher verzweifeltester. An einer Stelle sagt jemand: Etwas hat sich gelöst, und ab da scheint es immer hoffnungsvoller zu werden. Aber in Wahrheit haben die Figuren alle längst aufgegeben. GIER ist das erste meiner Stücke, in dem sie sagen: Scheiß drauf, ich hau ab von hier. In GESÄUBERT hört die Liebe nicht auf, sie ist eine letzte Rettungsmöglichkeit, und wahrscheinlich erscheint mir deshalb das Stück inzwischen so fremd.“ | |
Solange Sarah gelebt hat, wurde sie für die verschiedensten Interessen vereinnahmt, die wenigsten davon dürften ihre eigenen gewesen sein. Sie war eines der Zugpferde des britischen "Theaterwunders", ihre Stücke waren willkommenes Futter für Regisseure, die meinten, mit effekthascherischen Fehldeutungen das Provokationstheater der sechziger Jahre fortsetzen zu können. (Ein Vorwurf, den man Peter Zadeks Hamburger Inszenierung von "Gesäubert" glücklicherweise nicht machen kann.) Sie war die Zielscheibe für teils ignorante, teils absichtsvoll mißverstehende Theaterkritiker, die sich nicht damit abfinden wollten, daß sich das Theater in eine Richtung entwickelt hat, für die sie nicht mehr kompetent sind. Jetzt, wo sie sich umgebracht hat, versäumen ihre alten Feinde es nicht, ihr noch ins Grab hinterherzuspucken. Daran sieht man, könnte man denken, wieviel und wie viele sie bewegt hat. Aber selbst die, die ihr nahestanden, die, die ihre Stücke vielleicht so verstanden haben, wie sie verstanden werden wollte, drohen sie jetzt zu vereinnahmen, indem sie Sarahs Tod als konsequenten Schlußpunkt ihres Werks betrachten: Er umgibt ihr ohnehin schon wahrhaftiges Werk mit einer nicht überbietbaren Authentizität. Doch es ist zu einfach gedacht, in ihrem Selbstmord eine Fortschreibung ihrer hoffnungslosen Stückwelten zu sehen. Sarah war eine Künstlerin, die sehr genau reflektierte, was sie tat; eine sehr bewußt, wenngleich nie berechnend schreibende Autorin. Ihre Gedanken übers Theater und das Stückeschreiben waren von einer großen Klarheit und Schärfe. Sie verstand es, diese Gedanken mit anderen Autorinnen und Autoren zu teilen: Sehr bald begann sie, selbst noch jung, andere Schreiber zu unterrichten. Ihre Zartheit und Verletzbarkeit paßten nicht zu ihrem Ruf als Skandal-Autorin. Der beruhte nur auf einem voreiligen Mißverständnis. Ihre Stücke handeln nicht von Gewalt, sondern von der Sehnsucht nach menschlicher Nähe und von deren Unmöglichkeit. Sarah setzte ihrem Leben ein Ende zu einem Zeitpunkt, als sie mit "Crave" gerade ein Stück vorgelegt hatte, das in seiner Kunstfertigkeit und hohen Musikalität eine neue Periode in ihrem Schreiben zu markieren schien. Ihr Tod legt einen gewaltigen Maßstab an unsere Arbeit, wir stocken und überprüfen unsere Motive, die uns zweifelhaft erscheinen, wenn wir in uns nicht diese enorme Gefährdung spüren, die jeder wahrgenommen hat, der Sarah begegnet ist. Aber gerade das wäre schon wieder eine Vereinnahmung: Sarahs Tod und Sarahs Arbeit für das Theater dürfen nicht in dem Bedürfnis nach Verklärung verrührt werden zum Heldenbild eines frühvollendeten Genies. Das hieße nämlich, weder ihre Arbeit noch ihren Tod ernst zu nehmen. Ein Mensch, der sich so rückhaltlos preisgibt, wie Sarah es tat, ist immer in Gefahr, sich selbst zu verlieren. Aber gerade diese Unbedingtheit ist es, die an ihren Stücken bewundert wird und die wir an ihr als Mensch geliebt haben. (Thomas Ostermeier, Marius von Mayenburg, DER SPIEGEL 9/1999) | |
Manchmal bricht der Ruhm über einen Menschen herein wie eine Sturzflut und droht ihn von sich selber wegzureißen. So ging es Sarah Kane im Januar 1995, als sie 23 war und das Londoner Royal Court Theatre ihr Stück "Blasted" ("Zerbombt") zur Uraufführung brachte. Es war ein wüstes Alptraumwerk, das von Vergewaltigung, Verstümmelung, Blendung, Mord und Kannibalismus handelt, und es rief (obwohl die Premiere auf der Werkstattbühne vor nur 65 Zuschauern stattfand) einen Skandal hervor, wie ihn der Londoner Theaterbetrieb seit drei Jahrzehnten nicht erlebt hatte. Mag sein, daß es die geballte Aggressivität von "Blasted" schwermachte, die Leidenschaftlichkeit und dichterische Kraft des Textes wahrzunehmen. Sarah Kane sah sich zwar auch da oder dort als Hoffnungsträgerin einer rebellischen Avantgarde begrüßt, vor allem aber, mit dröhnenderen Fanfaren, von der Boulevardpresse als schamlose Dreckschleuder, als Anstifterin eines "ekelerregenden Schlachtfests" angeprangert - als hätte sie selber die Untaten begangen, von denen sie sprach, oder als sei sie schuld an den unauslöschlichen Greuelbildern vom Bürgerkrieg in Bosnien, die sie heraufbeschwor. Als sei ihr Theater zum Kotzen und nicht die Welt. Der Skandal (der "Blasted" natürlich zum Erfolg machte) hat das Leben von Sarah Kane, bis dahin eine ganz und gar unbekannte Theateranfängerin aus der Provinz, in ein Davor und ein Danach gespalten. Danach: Da war sie das Enfant terrible der Saison, wenn nicht ihrer ganzen Generation, manchmal Reisende im Bann ihres rasch wachsenden internationalen Ruhms, manchmal Dozentin in Dramatiker-Workshops, zum Beispiel in Spanien und Bulgarien - keine zornige Prophetin der Gewalt, vielmehr Dichterin eines untröstlichen Liebesverlangens, eines Phantomschmerzes, den verlorene Hoffnung hinterläßt, zuletzt einer bodenlosen Verzweiflung. Das wird sie bleiben. Davor: Da war die beengte, von sektiererischer Frömmigkeit bestimmte Kindheit, von der man wenig weiß, da die öffentliche Tabubrecherin Sarah Kane sich im Privaten verschwiegen gab (als prägende frühe Gewalt-Erfahrung hat sie stets die Lektüre der Bibel genannt), und dann war da, für die 17jährige entscheidend, der Bruch: mit der Familie und mit Gott, der sie doch (wie sie zugab) für immer zeichnete. Das Theater sollte fortan ihre Welt sein. Regie hatte sie schon auf der Schulbühne geführt, in Bristol und Birmingham studierte sie dann dramatische Literatur, als Schauspielerin jedoch scheint sie nur einmal hervorgetreten zu sein - im letzten Sommer, indem sie kurzerhand für ein paar Abende statt der erkrankten Darstellerin die Hauptrolle in "Cleansed" übernahm. Das Theater erschien ihr, gerade weil dort alles Simulation ist, als Stätte, wo auch der einsamste Schrei nicht ungehört verhallt, als Schutzraum, wo man sich der schmerzendsten Wahrheit stellen kann, als Refugium, wo sich, wenn es gelingt, Stück und Publikum zu gemeinsamer Erfahrung zusammenschließen. Sie lachte gern und laut, heißt es, sie pointierte auch ihre Texte mit vertracktem Witz, doch gelegentlich hat sie das Theater auch, bewußt feierlich und mit einer gewissen pathetischen Martyriumsbereitschaft, ihre "Berufung" genannt. Sarah Kanes sehr exaltiertes, den beliebten antiken Dramenstoff von Hippolytos greuelreich abwandelndes Stück "Phaedra''s Love" kam, von ihr selbst inszeniert, ihm Frühjahr 1996 im Londoner Gate Theatre auf die Bühne, und anderthalb Jahre später führte sie dort auch bei Büchners "Woyzeck" Regie. Ihr zweiter großer Streich nach "Blasted" aber war im Mai 1998, nun auf der großen Bühne des Royal Court Theatre, "Cleansed" ("Gesäubert"), ein zweites apokalyptisches Horrorszenario, über dem dennoch wie ein trotziges "Credo quia absurdum" eine Liebesutopie schwebt. Peter Zadeks deutsche Erstaufführung dieses Stücks, vor einem Vierteljahr in den Hamburger Kammerspielen, prägte dem Text einen Realismus auf, den Sarah Kane schon nicht mehr wahrhaben wollte, und doch setzte eben diese Inszenierung durch ihre Suggestionskraft den Anspruch durch, in ihr eine große Autorin des zeitgenössischen Theaters zu erkennen: groß in ihrem Mut und groß im Schrecken, den sie verbreitete. Ihr letztes, im August 1998 in Edinburgh uraufgeführtes Bühnenwerk "Crave" ("Verlangen"), formal strenger als die früheren, beinahe hörspielhaft stilisiert, war wie ein Stück melancholischer Verzweiflungsmusik - und sie wollte es eigentlich unter einem Pseudonym zur Premiere bringen, um das Spiel von der Last ihres Ruhms freizuhalten. Doch damals schon, wie nun zu erkennen ist, hatte nicht diese Last, sondern ein persönliches Liebesunglück Sarah Kanes Widerstandskraft gegen die Unzumutbarkeiten des Lebens gebrochen. Einen "qualvollen Kreislauf von Depression, Selbsthaß und Klinikaufenthalten" hat ihr Kollege und gelegentlicher Arbeitspartner Mark Ravenhill ihre letzten 18 Lebensmonate genannt. Ein monologisches Stück, das "Blasted" und "Cleansed" zur Trilogie schließen sollte, hat sie vermutlich beendet hinterlassen, und falls man der Londoner "Times" glauben darf, war sie zuletzt mit einer Bühnenversion von Goethes "Werther" beschäftigt. Mitte vorvergangener Woche, nur kurz nach ihrem 28. Geburtstag, wurde Sarah Kane mit einer Schlafmittelvergiftung in eine Londoner Klinik eingeliefert; in der Nacht zum Sonnabend hat sie sich dort erhängt. Wer zum Reisen wirklich entschlossen ist, läßt sich nicht halten. (Urs Jenny, DER SPIEGEL 9/1999) | |
In Sarah Kanes Stücken wimmelt es von Menschen, die verlassen sind. Verlassen von der Gemeinschaft, von der Liebe, von sich selbst, von Gott. Sie schreien um Rettung, wissen aber, dass es keine gibt. Wissen, es gibt kein größeres Ganzes, wodurch ihr Handeln und ihr Verlangen Sinn und Bedeutung bekommen. Deswegen greifen sie zurück auf die rohe, noch nicht geformte Kraft primärer Emotionen: der Schrei nach Liebe, der Antrieb zu leben oder zu sterben. In Sarah Kanes Stücken leidet der Mensch an sich selbst. Kanes Pessimismus ist fundamental und universell, deswegen sind ihre Stücke mit den Griechischen Tragödien verbunden. Die Krankheit „Mensch“ ist genetisch in ihm programmiert. Im Laufe der Geschichte gab es immer wieder Verbindungen, Institutionen, Geschichten, Religionen, Ideologien, die versucht haben, den Menschen davor zu behüten, zu viel an sich selbst zu leiden. Im Werk Sarah Kanes zerfallen diese Geschichten immer mehr. In GESÄUBERT gibt es noch Familienzusammenhänge, Hierarchien, Ziele, Entscheidungen, Handlungen die einen Fortschritt versprechen. In GIER sind diese Verbindungen nur noch als Echo da, als Erinnerung. Der Zusammenhang wird nicht mehr erfahren, aber er erscheint als Zitat. Die Figuren gelangen nicht mehr an den Anderen, jeder stagniert in sich selbst, im eigenen Leiden an sich selbst. Die Figuren sind buchstäblich „unbeteiligt“ geworden, sie nehmen nicht mehr Teil an den menschlichen Verhältnissen. In 4.48 PSYCHOSE ist auch das Echo verschwunden. Das Leben ist leer geworden, der Mensch ein lebender Toter. Der Zusammenhang ist weg und es gibt keine Hoffnung mehr, diesen Zusammenhang zurück zu gewinnen. Was es wohl gibt, ist eine Klarheit. Die Hauptfigur ist fähig, die menschliche Verfassung haarscharf zu analysieren und die Bedingungen für ein sinnvolles Leben zu benennen. Aber diese Analyse stockt in der Theorie. In der Praxis gibt es keine einzige Bedingung, die zu einem sinnvollen Leben führt und der Mensch verlangt nur noch die Aufhebung von sich selbst. In Kanes Stücken ist der Tod allgegenwärtig. Trotzdem behandelt Kane eher die Bemühungen zu leben als das Verlangen zu sterben. Die Figuren leiden an der Erfahrung, abgekoppelt zu sein von der Welt, in der sie leben. Darin zeigt sich eine merkwürdige Parallele mit dem Lebensgefühl und der sozioökonomischen Lage großer Gruppen von Menschen in der heutigen westlichen Welt. Auch in unserem Wohlfahrtsstaat des 21. Jahrhunderts gibt es viele Menschen, die sich verlassen fühlen. Sie erleben die Gesellschaft als eine Gesamtheit von Institutionen, die keine Verbindung mehr haben zu der Bedürftigkeit und dem Verlangen konkreter Menschen. „Die Banken werden gerettet, die Menschen nicht“, lautet ein Slogan der Indignados. Sarah Kanes Figuren fühlen sich, genau wie diese Leute, abgekoppelt von der Gesellschaft und erheben sich. Ihr Protest ist nicht Material zur Inszenierung nur eine negative Geste, er zeigt das utopische Keimen einer neuen Verbindung, einer Verbindung, die nicht politisch oder ökonomisch wieder zu verwerten ist, so wie eine langsame Wanderung oder die Besetzung eines öffentlichen Raums. Sarah Kanes Stücke, wie brutal sie auch sind, sind grundsätzlich humanistisch, weil sie die Frage behandeln, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Mensch sein, könnte die Antwort lauten, impliziert Konstruktion und Destruktion. Liebe und Gewalt. Jedes Stück hat diesen Punkt, an dem man denken könnte: „Das ist aber nicht mehr human!“ Aber genau um diesen Punkt dreht sich die Logik. Kanes Hypothese ist zutiefst beunruhigend: Je mehr vernichtet wird, umso mehr wird der Kern unserer Humanität sichtbar. Je mehr man versucht die Liebe zu vernichten, umso aktiver wird ihre Kraft. Die einzige Chance, die wir Menschen haben, ist, in dieser Vernichtung die Möglichkeit von Intimität aufzuspüren, unsere Wunden und Verletzungen als Merkmal unserer Identität zu tragen und sie einander darzubieten. „Ihr werdet immer ein Stück von mir zurückbehalten weil mein Leben in euern Händen lag.” (4.48 PSYCHOSE) Dies ist die Utopie, Menschen die einander gegenseitig das Leben in den Händen tragen, auch wenn dieses Leben krank und verletzt ist: Abhängigkeit als Rohstoff für potentielles Glück. (Koen Tachelet, Dramaturg, Münchner Kammerspiele) | |
|