Sollte es einem Menschen beschieden sein, Außer- gewöhnliches zu erblicken, als da sind: der Ausbruch eines feuerspeienden Berges, der blühende Ort- schaften wegfegt, der Aufstand eines geknechteten Volkes wider seinen allmächtigen Gebieter oder der Einfall eines nie gesehenen und nicht zu zügelnden Volkes in sein Heimatland - so möge er alles Gesehene dem Papier anvertrauen. Sollte er aber der Kunst, Worte mit der Spitze eines Rohrstäbchens aneinander- zureihen, nicht mächtig sein, so möge er seine Erinnerungen einem erfahrenen Schreiber lebendig machen, damit dieser das Gesagte auf dauerhaften Blättern verzeichne, den Enkeln und Urenkeln zur Belehrung. (Aus dem Roman "Dschingis Khan" von Wassili Jan) | |
mit Vera Hagemann Mona Kospach Gina Mattiello Ninja Reichert | |
Inszenierung/Raum: Ernst Marianne Binder
Musik: Alexander Chernyshkov
Konzept Bühne: Carlos Schiffmann
Ausstattung: Vibeke Andersen
Licht: Geari Schreilechner
Sprechtraining/Chor: Ninja Reichert
Körpertraining: Mona Kospach
Assistenz: Christoph Trummer
Produktion: Heidrun Primas/Andrea Speetgens
Technische Leitung: Geari Schreilechner/Garfield Trummer
Presse: Isabella Holzmann
Disposition: Filipa Cicin-Sain
PREMIERE
11. Jänner 2016, 20:00, Forum Stadtpark
Stadtpark 1, 8010 Graz
Weitere Vorstellungen: 13., 14., 15., 16.,
20., 21., 22., 23., 27., 28., 29., 30. Jänner 2016, jeweils 20:00
Eine Kooperation von dramagraz und Forum Stadtpark
Aufführungsdauer: 90 min
Herzlichen Dank an Peter Venus (den Sächsisch-Lehrer),
Dipl.Ing. Karl Reisinger aus Bad Leonfelden (für den
Haflinger), an Christoph Scherer (für Hilfe beim
Transport etc.) und bei Dr. Rudolf Kral (für diverse
medizinische Gerätschaften).
© Alle Rechte beim Henschel-Verlag, Berlin
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Die Lebenden sind nur die eine Hälfte des Wirklichen, die andere Hälfte sind die Toten. Und diese haben feste Plätze. Und diese bestimmten Plätze entscheiden mit über den Platz, der für die Lebenden bleibt. Es ist ein Irrtum, dass die Toten tot sind. | |
"Wolokolamsker Chaussee" heißt die Verbindungs-straße, an der der deutsche Vormarsch auf Moskau im Zweiten Weltkrieg zum Stehen kam. Ihr Name diente Heiner Müller als Titel und Material für sein fünfteiliges Drama über das Absterben revolutionärer Energien – beginnend in den Wäldern vor Moskau über die Unruhen 1953 in der DDR und endend mit dem Prager Frühling 1968. Der Kampf der Arbeiterbewegung mit all ihren Schwächen und Fehlern, den Utopien, die viele Menschen mobilisierten, aber auch der Hass, der, gespeist aus brauner Propaganda, dieses Projekt von Anfang an begleitete, wird hier ebenso sichtbar, wie das Scheitern der sozialistischen Utopie an den Verhältnissen. Wenn wir an den Umbruch denken, der gerade in Europa stattfindet, dann ist diese Form der Geschichts-aufarbeitung notwendiger und aktueller denn je. Wenn wir aus der Geschichte nicht lernen, wird sie sich wiederholen. An der Front kurz vor Moskau spielen die ersten beiden Teile der "Wolokolamsker Chaussee" (I RUSSISCHE ERÖFFNUNG, II WALD BEI MOSKAU). Hier kämpft ein sowjetischer Kommandeur angesichts der deutschen Übermacht gegen die Angst in seinem Bataillon und muss sich dem Vorwurf stellen, für eine drohende Niederlage verantwortlich zu sein. Er trifft Entscheidungen, die aus seiner Sicht den Weg der russischen Panzer nach Berlin ebnen - es sind Entscheidungen, die Opfer fordern. Im nächsten Teil des Stückes (III DAS DUELL) führt die Spur der russischen Panzer in die DDR. Sie beenden hier am 17. Juni 1953 das Duell zwischen einem Betriebsdirektor und seinem Stellvertreter, der das Streikkomitee vertritt. Die Panzer sichern ein System, in dem sich die Vorstellung, es gäbe keine Ordnungswidrigkeit und keinen Staatsfeind, zum grotesken Alptraum eines Staatssicherheitsbeamten auswächst. Und so geht es im vierten, Kafkas Erzählung "Die Verwandlung" nachempfundenen, Teil (IV KENTAUREN) um die Angst eines Stasimannes vor einer Welt, in der er selbst mit seinem Schreibtisch zur Einheit von Mensch und Maschine verwächst: "Ich hatte einen Traum. Es war ein Alptraum. Ich wachte auf und alles war in Ordnung." Der letzte Teil (V DER FINDLING) knüpft an die Figurenbeziehung zwischen dem Ziehvater und dem Adoptivsohn aus Kleists gleichnamiger Erzählung an: Bei Kleist wird der Sohn zum Verderber des väterlichen Lebensglücks und von diesem schließlich getötet, bei Müller zum ideologischen Feind erklärt. Geschildert wird die letzte Auseinandersetzung zwischen einem hohen SED-Funktionär und seinem rebellischen Adoptivsohn, der im Sommer 1968, nach dem Einmarsch der Panzer in Prag, Flugblätter verteilt hat, daraufhin von seinem Vater angezeigt wird und eine fünfjährige Zuchthausstrafe erhält. | |
Müller-Figuren wirken in Zeiten der globalen Geldentwertung wie mit Muskeln bepackte Sprachkraftpakete. Sie erzählen vom kurzen Sommer der Utopie: Als man die bürgerliche "Verblendung" zu durch-schauen meinte, den Sozialismus aber bereits vom Stalinismus korrumpiert vorfand. | |
(Ronald Pohl in "Der Standard") | |
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