Sarah Kane tötete sich im Alter von 28 Jahren zu einem Zeitpunkt, da
sie weltbekannt war und ihre Stücke von namhaften Regisseuren
inszeniert wurden. Sie schluckte eine Überdosis Tabletten, ihr Magen
wurde ausgepumpt, sie ging nach Hause, nahm die Schnürsenkel aus
ihren Schuhen und hängte sich daran in der Toilette auf. So berichtet es
Edward Bond, ein Lehrer und Vorbild von Sarah Kane.
In ihrem ersten Stück ZERBOMBT geht es um eine Frau und einen Mann
in einem Hotelzimmer. Der Mann ist Journalist und schwer krebskrank,
die Frau, fast noch ein Kind, seine frühere Geliebte. Sie sucht Nähe, er
will mit ihr schlafen, sie weigert sich, er vergewaltigt sie. Sie stottert,
verliert das Bewusstsein. Draußen auf der Straße tobt ein Krieg. Ein
Soldat stürmt das Hotelzimmer. Als Befreier kommt er nicht.
"ZERBOMBT ist die ins Extrem gesteigerte Bestandsaufnahme eines
beschädigten Lebens", verspricht der Verlagsprospekt. "Im Tonfall
unterkühlter Sachlichkeit, mit dramaturgischer Ökonomie und
erschreckender Logik treibt Kane die scheinbar private Situation einer
dysfunktionalen Zweierbeziehung an ihre äußersten Ränder und lotet die
eskalierende Gewaltbereitschaft einer kaputten Gesellschaft aus."
"Ich schrieb die ersten Seiten, ich wusste nicht, was zwischen den
beiden Personen passieren würde, dann sah ich Fernsehnachrichten,
eine Frau in Sarajewo weinte und sagte: 'Bitte tut irgendwas, bitte helft
uns.' Ich wusste es, sie wusste es und die ganze Welt wusste es, dass
niemand etwas tun würde", beschreibt Kane ihre Ausgangsposition beim
Schreiben des Textes.
Die Auseinandersetzung zwischen einer Frau und einem Mann in einem
Hotelzimmer in England bekommt so eine Verbindung zu dem
Geschehen in Bosnien. Die Verhältnisse in der Welt werden übertragen
auf die Menschen und ihre Gefühle zueinander. In ZERBOMBT dringt der
Krieg von außen ins Zimmer. "Die Inszenierung des Texts muss
notwendigerweise darauf abzielen, die Mechanismen der
Gewaltbereitschaft zu sezieren, den Auslöser, den Trigger
festzumachen", sagt der Regisseur der Grazer Inszenierung, Ernst
Binder. Bei ihm wird der Ort der Handlung nicht benannt. Er liegt weder
in Bosnien, noch in England, sondern irgendwo in einer Stadt, die überall
in Europa sein könnte. Die Stadt könnte auch Wien heißen, das
Hotelzimmer eines in Graz sein. Die Probleme, die Kane in ihrem Stück
anspricht, werden selbst hier in der steirischen Provinz immer virulenter.
Die im Text explizit vorgeführte Ausländerfeindlichkeit zum Beispiel ist in
Graz nicht weniger präsent als in Paris oder London. Die
Gewaltbereitschaft nimmt auch hier zu.
Binder verweigert allerdings jegliche Aktualisierung und stellt weder
plumpe Bezüge zu tagespolitischen Ereignissen her, noch versucht er,
die Welt "draußen" zu bebildern. "Wir kennen die Bilder von
Straßenkämpfen aus dem Fernsehen, sie werden uns vorgeführt wie ein
Fußballspiel und haben inzwischen auch nicht mehr Relevanz als diese.
Sie ziehen an uns vorbei wie die Wettervorhersage und die
Börsenkurse", sagt Binder. "Ich versuche, das Archaische des Textes in
den Mittelpunkt der Aufführung zu stellen, um die Brisanz der sozialen
und moralischen Verwerfungen in unserer Gesellschaft sichtbar werden
zu lassen. Aber auch die Verwerfung in uns. Man braucht nicht in die
Vororte von Paris oder London zu fahren, um den Figuren in diesem
Stück zu begegnen. Es genügt, das Zimmerfenster zu öffnen." Im von
Binder in die Inszenierung importierten Kommentar von Heiner Müller zu
Sophokles' ÖDIPUS, TYRANN heißt es denn auch: "So lebt er, sein Grab,
und kaut seine Toten. / Seht sein Beispiel, der aus blutigen Startlöchern
aufbricht / In der Freiheit des Menschen zwischen den Zähnen des
Menschen / Auf zu wenigen Füßen, mit Händen zu wenig den Raum
greift."
Sarah Kane ist kein modisches "bad girl". Sie ist mit der infantilen
Grausamkeit von Märchen und alttestamentlichen Gräuelgeschichten
herangewachsen; die Portalfiguren ihrer literarischen Selbstfindung
waren offenbar Kafka, Beckett und Bond; sie hat, Enfant terrible einer
von sektenhaft-inbrünstiger Frömmigkeit geprägten Familie, etwas von
einer Stigmatisierten ohne Gott; ihr Weltbild ist archaisch, ihr Anspruch
maßlos (Urs Jenny in Der Spiegel 51/98). Ihre Stücke riefen auch
deshalb solche Skandale hervor, weil sie eine Frau war und Frauen solch
eine Härte und Direktheit übel genommen wird. Gern wurde sie als
schüchterne, introvertierte Frau beschrieben, als sei das ein Widerspruch
zu ihrer Arbeit. Das Klischee "sanfte Frau" mit unsanften Gedanken.
Sarah Kane beschreibt sich selbst in einem Interview als Romantikerin:
"Um Gewalt ist es mir nie gegangen, sondern immer darum, wie sehr
diese Menschen lieben."
In einem anderen Interview beschreibt die Autorin ihre Eindrücke beim
Besuch einer Aufführung von ZERBOMBT in Belgien: "Ich habe einige
Aufführungen gesehen, die erheblich anders waren, als das, was ich
geschrieben hatte, die ich aber mochte. Da gab es eine Aufführung in
Belgien, unmittelbar, nachdem dieser Kinder-Porno-Ring dort aufflog.
Das ganze Stück drehte sich nur noch um das Baby in meinem Stück
und da saßen weinende Menschen im Zuschauerraum, als das Baby
begraben wurde. Es hatte eigentlich wenig mit meinem Stück zu tun,
aber es war eine authentische sozio-kulturelle Neuinterpretation und so
fiel es mir leicht, die Aufführung zu akzeptieren."
Kritiker warfen ihr immer wieder vor, sie sei eine Anstifterin eines
ekelerregenden Schlachtfelds. Sarah Kane dazu: "Wer sagt, gewisse
Dinge könnten nicht dargestellt werden, sagt, dass man über diese
Dinge nicht sprechen kann. Er leugnet ihre Existenz." Noch deutlicher
wird ihre Haltung in einem Zitat aus ihrem zweiten Stück PHAIDRAS
LOVE: Hast du jemals gemeint, dir würde das Herz brechen? Dir
gewünscht, du könntest deine Brust aufschlitzen, das Herz herausreißen
damit der Schmerz aufhört?
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